Sehr Frau Merkel,
Sehr geehrte Frau Dunger-Löper
geehrte Damen und Herren,
der Senat hat am 23. Juni 2020 die SARS-CoV-Infektionsschutzverordnung verabschiedet, die insofern einer neuen Systematik folgt, als zunächst grundsätzliche Pflichten sowie Schutzund Hygienevorschriften verordnet werden (Grundsätzliche Pflichten, Schutz- und Hygienekonzepte, Anwesenheitsdokumentation, Mund-Nasen-Bedeckung, Hygiene- und Schutzregeln für besondere Bereiche, Präzisierung der Regelungen zu Veranstaltungsgrößen, weitere Lockerungen für Musikschulen), um dann Personenobergrenzen und Verbote auszusprechen, soweit sie angesichts der Entwicklung der Virusausbreitung nach derzeitigem Stand für erforderlich gehalten werden. Sie tritt am 27.06.2020 in Kraft.
Schließlich, und das ist neu, wird in § 5 Absatz 1 verordnet, dass in geschlossenen Räumen nicht gemeinsam gesungen werden darf.
Der Chorverband hat in einem Offenen Brief vom 24.06.2020 scharfe Kritik an dieser Regelung geäußert und ist meinem Vorhaben zuvorgekommen, den betroffenen Akteuren die zugrundeliegenden Überlegungen zu diesen Regelungen zu erläutern und um Verständnis zu werben.
Zunächst möchte ich mich noch einmal dafür bedanken, dass der Chorverband sich intensiv um ein Konzept für eine risikoarme Arbeit von Chören bemüht hat. Das war hilfreich, denn auch der Verband stellt fest, dass „bei Chorproben in geschlossenen Räumen (…) trotz Einhaltung der Abstandsregeln das Risiko einer Virusübertragung durch Aerosole (besteht)“. Das Chorsingen im Freien sei mit wesentlich geringerem Infektionsrisiko verbunden und daher zu favorisieren. Diese Einschätzung ist in unsere Überlegungen eingeflossen, sodass die Schärfe der Kritik überrascht.
Unsere Erwägungen zum Chorgesang resultieren aus Beratungen, die der Senat als Gremium mit den Wissenschaftler*innen Prof. Dr. Drosten, Prof. Dr. Gastmeier und Prof. Dr. Hübner und die Senatsverwaltung für Kultur und Europa ergänzend mit den Wissenschaftler*innen Prof. Dr. Kurth, Prof. Dr. Kriegel, Dr. Voshaar und Feldner durchgeführt hat.
Demnach legen die neueren Erkenntnisse zur Wirkungsweise der Übertragung des CoronaVirus nahe, dass Schmierinfektionen dabei eine untergeordnete Rolle spielen. Demgegenüber sind Aerosole als Hauptinfektionsherde in Betracht zu ziehen. Bei Aerosolen handelt es sich um Teilchen im Mikrobereich, die als Virenträger nur 0,2 und 0,4 Mikrometer groß sind und deshalb – anders als Tröpfchen, die wir Menschen ausstoßen – nicht zu Boden sinken, sondern sehr lange in der Luft schweben und bei nicht ausreichendem Austausch mit Frischluft leicht sich überall im Raum verbreiten.
Das Singen unter freiem Himmel daher auch erlaubt, weil weniger risikobehaftet.
Superfeine Aerosole werden unter anderem beim Sprechen ausgestoßen, Aerosole atmen wir auch in Ruhesituationen bis tief in die Lunge ein. Atmen, Husten, Niesen, Sprechen: das alles erzeugt Aerosole im Raum. Bei lautem Sprechen, bei impulsivem Sprechen und beim Singen verschärft sich ansteigend der Aerosol-Ausstoß. Insbesondere das kraftvolle gemeinsame Singen erzeugt eine massiv höhere Aerosol-Belastung. Weniger problematisch ist offenbar die Nutzung von Blasinstrumenten im Innenraum, solange Abstände beachtet werden.
Infizierte Menschen stoßen ein Vielfaches an Aerosolen aus im Vergleich zu gesunden Menschen. Da dies auch bei Personen ohne Symptome auftreten kann, liegt hier eine besondere Gefahr. Unsere Expert*innen gehen deshalb – auch anhand von Fallberichten – davon aus, dass bei Anwesenheit eines Infizierten in einem geschlossenen Raum 30 bis 40 Prozent aller Anwesenden infiziert werden können. Ein wichtiger Faktor ist die Kubikmeterzahl des Raums im Verhältnis zur Zahl der anwesenden Personen und ein weiterer wichtiger Faktor die Belüftungssituation. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die herkömmlichen Klima- bzw. Belüftungsanlagen an sich nicht für die Filterung von Aerosolen (wie etwa in Flugzeugen) ausgerichtet sind. Vor diesem Hintergrund ist auch der Mindestabstand von 1,5 m vor allem Risikominimierung, da die Aerosole als Schwebteilchen den ganzen Raum erreichen können.
Nun sind die Ansteckungszahlen derzeit so gering, dass die Wahrscheinlichkeit, dass jemand im Raum infektiös ist, kalkulierbar ist. Wir beobachten aber auch, dass die Ansteckungszahlen wieder deutlich ansteigen. Angesichts der Clusterereignisse der zurückliegenden Wochen auch in Berlin, in denen immer auch wieder größere Gemeinschaftsereignisse in geschlossenen Räumen eine Rolle spielten (Chorgesang, Gottesdienste mit Gemeindegesang etc.), gibt es keinerlei Grund für Leichtsinn, Entwarnung oder die Annahme, es werde in den vor uns liegenden Wochen und Monaten immer weiter bergauf gehen, bis die Pandemie überwunden ist.
Ich weiß, dass andere Bundesländer anders entschieden haben und ich bin von diesen Entscheidungen, insbesondere in Ländern, die Berlin gern der Laschheit schelten, überrascht. Ich halte sie für gefährlich.
Es liegt mir sehr am Herzen, Ihnen diese Gedanken zu übermitteln, denn ich kann den Druck, zu einer Normalität des Kulturlebens zurückzukehren, wie wir sie vor der Pandemie gewöhnt waren, mehr als verstehen. Wir alle vermissen das unmittelbare „analoge“ Kulturerlebnis, Künstler*innen sehnen sich nach künstlerischer Betätigung. Dies hat auch das Expert*innen – Gremium so zum Ausdruck gebracht. Wir müssen uns aber immer wieder klarmachen, dass ein Ansteckungsgroßereignis in einer unserer Einrichtungen ebenfalls dramatisch ist, da es einen weiteren umfangreichen Lockdown nach sich ziehen kann, was wir alle vermeiden wollen.
Deshalb müssen wir die Risiken sehr genau abwägen. Bis es einen Impfstoff oder ein wirksames Medikament gibt, werden wir permanent die Situation neu zu bewerten haben, wir werden sehr konkret mit den bestehenden Unsicherheiten umzugehen haben. Ich bin mir bewusst, dass das für uns alle eine Zumutung ist, der wir aber nicht anders begegnen können als mit kühlem Kopf, konkreten Abwägungen und mit Verantwortungsbewusstsein.
Dabei bitte ich auch darum, bei Ihren Einschätzungen zu den Wirkungen nicht in einen unangemessenen Verbalradikalismus zu verfallen. Dem Berliner Senat und dem Kultursenator vorzuwerfen, er betreibe die „Auslöschung von Kulturgut“ etc., verkennt, unter welcher Anspannung und Ernsthaftigkeit seit Mitte März Entscheidungen getroffen werden. Der Schutz der Berliner Kulturlandschaft steht für mich vom ersten Tag an im Mittelpunkt meiner Arbeit. Und ja: ich halte die Gefahren der Pandemie für Gesundheit und Leben Tausender für real. Mit dem „Sterben des Nachwuchses“ zu polemisieren, ist einfach unpassend.
Lassen Sie uns aber ins Gespräch kommen: Ich hatte selbst vor, Ihnen vorzuschlagen, dass wir uns mit dem Landesmusikrat, dem Chorverband Berlin und dem Musikschulbeirat im August mit Expert*innen treffen, um mit Ihnen gemeinsam die Regelungen und die Gefahren zu diskutieren. Insofern trifft Ihr Vorschlag auf Zustimmung. Ich würde mich freuen, wenn der Landesmusikrat uns bei der Vorbereitung hilft.
Mit herzlichen Grüßen
Dr. Klaus Lederer